Der “Vorhang” des Heiligen

■ Wenn wir uns den alttestamentarischen Tempel zu Zeiten Jesu anschauen, den so genannten Tempel des Herodes, wie er nämlich unter Herodes dem Großen nach vorheriger teilweisen Zerstörung ab 20/19 vor Chr. ungefähr 10 Jahre lang neu aufgebaut wurde, so wurde er im Prinzip in drei Hauptteile unterteilt. Auf der einen Seite die Vorhalle, auch das Heilige genannt, welche seinerseits in den Vorhof der Priester, den Priesterhof, und den Vorhof Israels unterteilt wurde. Im Priesterhof haben die Priester die rituellen Opfer dargebracht, dort standen der Brandopferaltar, der Siebenarmige Leuchter und der Schaubrottisch. Im Vorhof Israels haben sich die männlichen und rituell reinen Israeliten aufgehalten. Den Heiden war es unter Todesstrafe verboten, dieses Heilige zu betreten.
Daneben gab es auch noch den Vorhof der Frauen und um diesen und den Vorhof Israels herum den Vorhof der Heiden, wo sich diese Letzteren allein im Tempel aufhalten durften. Ganz vorne, vor dem Heiligen, befand sich aber noch ein anderer Raum, das Allerheiligste genannt. Im Hebräerbrief wird gesagt, dass nur der Hohepriester und nur ein einziges Mal im Jahr dieses Allerheiligste betreten durfte, und zwar mit dem “Blut (der Tiere - Anm.), das er für seine und des Volkes Vergehen darbringt” (vgl. Hebr 9,6f.).
Das Allerheiligste wurde deswegen so genannt, weil Gott selbst dort Seine Gegenwart unter dem Volk Israel aufgeschlagen hatte. Allerdings ist es erstaunlich, dass sich in diesem Allerheiligsten zu Zeiten Jesu, also im so genannten Tempel des Herodes, kein einziger (liturgisch-sakraler) Gegenstand befand, der irgendwie die Gegenwart Gottes hätte versinnbilden können oder sollen - er war also erstaunlicherweise ganz leer! Dabei wurde das Allerheiligste vom Heiligen durch einen Vorhang abgegrenzt.
Nun, ein Mensch, der sich nicht oder höchstens nur oberflächlich in liturgisch-religiösen Fragen des Alten und Neuen Testamentes auskennt, würde jetzt wahrscheinlich darüber verwundert sein, dass das Allerheiligste durch den betreffenden Vorhang den Blicken der Menschen verborgen blieb und sich dort nichts befand. “Die religiöse Praxis der Verhüllung ist für die Aufklärungsbewegungen aller Zeitalter geradezu zum Sinnbild des Obskurantismus geworden. So wie im Begriff des ‘Illuminismus’ die Vorstellung einer hellen Lampe liegt, die in dunkle Kellergewölbe voller Spinnweben und Ratten hineinleuchtet, so hat die aufklärerische Rhetorik auch gern davon gesprochen, dass sie den Schleier zerreiße und Masken zerstöre. Was der Schleier vor den Frommen verbarg, war ein Betrug. ... Dabei war die Bedeutung des kultischen Schleiers den Gläubigen seit ältester Zeit klar gewesen. Als Pompejus den Tempel von Jerusalem als Sieger betrat, hatte er den Tempelvorhang in sakrilegischer Absicht zum Entsetzen der Priesterschaft zur Seite gezogen. Was er sah, erfüllte ihn mit Triumph, einem uns sehr vertrauten Gefühl. Hinter dem Schleier war nichts.
Aber was hätte man hinter dem Vorhang des Tempels denn wohl finden sollen? Glaubte Pompejus wirklich, den gläubigen Juden durch das Antasten ihres Heiligtums ein Licht aufgesteckt zu haben? Was er nicht sah oder nicht sehen wollte, war, dass nicht der Vorhang verbarg, was die Botschaft war, sondern, dass der Vorhang selbst die Botschaft enthielt, um die es den Frommen im Tempel ging” (Mosebach, Martin, Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind. Deutscher Taschenbuch Verlag, 2012, S. 147f.).
Gott ist ja immateriell! Somit kann auch kein sachlicher und mit äußeren Sinnen des Menschen wahrnehmbarer Gegenstand Ihn adäquat darstellen oder hinreichend symbolisieren, zumal nicht zu Zeiten vor der Geburt Jesu, da doch diese Inkarnation, die Menschwerdung Gottes, noch nicht stattgefunden hatte. So hat auch der Vorhang vor dem Allerheiligsten die ausdruckstarke Botschaft und fundamentale Glaubenswahrheit in sich enthalten, dass Gott inhaltlich, das heißt von Seinen Eigenschaften und Seiner sittlichen Vollkommenheit her, immer mehr ist als der menschliche Geist es sich vorstellen kann bzw. die menschlichen Sinne es wahrnehmen können. So brachte der Vorhang im Tempel zu Jerusalem zum Ausdruck, dass die Realität Gottes ein Mysterium ist, etwas Sakrosanktes, welches bei weitem die menschliche bzw. menschlich wahrnehmbare Sphäre überragt und dem sich der Mensch nur in tiefster Ehrfurcht vor diesem Göttlichen “annähern” darf!
So musste ein frommer Israelit des Alten Bundes überhaupt nicht hinter diesen Vorhang vor dem Allerheiligsten hineinschauen, um irgendwie zum Glauben zu kommen oder im Glauben gestärkt zu werden. Im Gegenteil, diese Verhüllung des Allerheiligsten, dessen von tiefster Ehrfurcht getragenes Verbergen vor den Blicken der Menschen, vermittelte ihm mehr Erkenntnis über die Realität Gottes als der tatsächliche Blick hinter den betreffenden Vorhang! Denn beim Blick auf den Vorhang befand sich für einen Gläubigen hinter dem Vorhang keine Leere und kein Nichts - er erahnte da in herzensreiner Gottesfrömmigkeit umso mehr eine solche inhaltsstarke Gegenwart Gottes, die an ihrem geistigen Reichtum alle menschliche Vorstellungskraft übersteigt!
Dabei ist diese Glaubenserkenntnis keinesfalls gegen die Ratio, gegen die menschliche Vernunft gerichtet. Im Gegenteil, gerade seine Vernunft lässt den Menschen hier auf Erden erkennen, dass sein Geist sehr wohl begrenzt ist in seiner Leistungsfähigkeit bzw. bestimmten und unbestreitbaren Einschränkungen in Bezug auf die Erfassung des über die Natur hinaus gehenden, der übernatürlichen Realität, unterworfen ist. Denn gerade die Erfahrung des Menschen, z.B. gerade beim Begreifen der sittlichen Werte wie Güte, Liebe, Gerechtigkeit, Vergebung eindeutigen Einschränkungen in Bezug auf deren Tiefe und Unendlichkeit zu unterliegen, lassen uns die ganze Fülle und Unendlichkeit der göttlichen Realität erahnen und im auf diese Weise gewonnenen Glauben gewissermaßen einen mysterienhaften “Blick” hinter den äußeren Vorhang, den Schleier des Heiligen, werfen!
Es ist anzunehmen, dass gerade auch die Erscheinung Gottes im Brennenden Dornbusch, die Moses am Berg Horeb wahrnahm, einen tiefen spirituellen Einfluss auf die grundsätzliche Haltung Israels im Alten und der Kirche im Neuen Bund zum Prinzip des liturgischen “Vorhangs” hatte und hat. “Da erschien ihm der Engel des Herrn inmitten einer Feuerflamme, die aus einem Dornbusch herausschlug. Er sah, dass der Dornbusch brannte, aber der Dornbusch wurde vom Feuer nicht verzehrt. ... Als der Herr sah, dass er herantrat, um nachzuschauen, rief ihm Gott aus dem Dornbusch heraus zu: ‘...Tritt nicht näher heran! Ziehe die Schuhe von den Füßen! Denn der Ort, an dem du stehst, ist heiliger Boden.’ ... Da verhüllte Moses sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.” (Ex 3,2-6).
Ja, die Realität und Gegenwart Gottes ist insofern für uns, Menschen, (ehr)furchterregend bzw. soll auch unbedingt so bleiben, weil das Göttliche immer über dem Menschlichen, das Ewige über dem Zeitlichen, das Unsterbliche über dem Vergänglichen steht. Der Mensch kann es in seinem krankhaften Stolz und seiner schicksalhaften Selbstüberschätzung drehen und wenden, wie er will, er kommt niemals insofern an Gott heran, dass er sich mit Ihm messen könnte, was vor allem die sittliche Stärke und moralische Vollkommenheit angeht. Der Mensch bleibt immer ein Geschöpf vor dem Schöpfer, ein Sünder vor dem Heiligen! Daher maßt sich eine fromme Seele auch nicht an, Gott sozusagen konkret schauen zu wollen, sondern umgibt das Göttliche hier auf Erden mit einem “Schleier” der Ehrfurcht, der aber seinerseits mehr Erkenntnis Gottes in sich birgt als eventuelle aus falscher menschlicher Neugierde unternommene Versuche, das Göttliche lediglich nach der Art des Menschlichen wahrnehmen zu wollen!
Aber auch nachdem Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist, bleibt Seine Realität und Gegenwart für uns Menschen weiterhin in beschriebener Weise mysterienhaft und geheimnisvoll. Denn jetzt “verbirgt” sie sich nicht nur unter dem teilweise weiterhin bestehenden Vorhang der Unsichtbarkeit Gottes, sondern auch unter dem Schleier der menschlichen Natur Christi.
Denn bei weitem nicht jeder Mensch, der Jesus Christus persönlich begegnet ist, hat ja in Ihm den wahren Sohn Gottes, den menschgewordenen Gott, erkannt. Nur die Menschen, die mit gesunder Sehnsucht im Herzen nach Gott gesucht haben, haben in Ihm (etwa als ersten Schritt auf dem Weg zur vollen christlichen Glaubensüberzeugung) etwas erkannt, was bei weitem die Sphäre des Menschlichen und Irdischen überragt. So lesen wir am Ende der Bergpredigt bezeichnenderweise: “Als Jesus diese Reden beendet hatte, wurden die Volksscharen von Staunen über Seine Lehre ergriffen. Denn Er lehrte sie wie einer, der Macht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten und Pharisäer”(Mt 8,28f.). Und erst die weitere aufrichtige Öffnung des Herzens für Gott und die Verinnerlichung des Geistes Jesu hat sie zu einer Glaubensklarheit geführt, wie sie z.B. im feierlichen Glaubensbekenntnis des Apostels Petrus zum Ausdruck kommt: “Du bist der Messias, der Sohn des Lebendigen Gottes” (Mt 16,16)!
■ So wendet die katholische Kirche dieses Prinzip des die Vollkommenheit und Heiligkeit Gottes umgebenden bzw. sie ausdrucksstark andeutenden Schleiers auch in ihrer Liturgie an. Zwar kennt der Römische Messritus keinen konkreten Vorhang zwischen dem allgemeinen Kirchenraum und dem Altarraum (im Unterschied zur Ikonostase, der Ikonenwand des Byzantinischen Ritus), aber einige andere Einrichtungen liturgischer Art üben gewissermaßen eine analoge Funktion aus.
So ist ja vorgeschrieben, dass der das hl. Messopfer feiernde Priester nur in bestimmte liturgische Gewänder gekleidet zum Verrichten seines heiligen Dienstes an den Altar tritt. So steht er beim Vollzug des Opfers bezeichnenderweise auch nicht mit dem Gesicht zum Volk gerichtet, woran ja ein Mensch hauptsächlich in seiner eigenen Personalität erkannt wird. Nein, die Menschen sehen “nur” einen Liturgen, dessen Gesicht und somit persönliche Identität als auch Gestalt “verdeckt” und “verschleiert” sind. So wird einem gläubigen Menschen viel intensiver die Wahrheit bewusst, dass nicht ein bestimmter konkreter Mensch in der Messe als der eigentliche Opfernde handelt, sondern dass Jesus Christus selbst - im und durch den menschlichen Priester - das hl. Opfer darbringt! Sowohl die Heiligkeit der Liturgie wird dadurch unterstrichen als auch, dass Gott ihr Stifter und Urheber ist.
Auch bildet das Latein als liturgische Sprache des Römischen Messritus einen solchen “Vorhang”, der umso ausdruckstärker die Übernatürlichkeit des Geschehens auf dem Altar unterstreicht! Latein ist eine sogenannte tote Sprache, die also nicht im tagtäglichen Leben von den Menschen gebraucht wird. Somit eignet es sich im Sinne der liturgischen Symbolik umso mehr für die Verwendung in der Liturgie. Denn indem die Kirche gerade sie für den Gebrauch bei ihren sakralen Handlungen verwendet - und eben nicht Deutsch, Englisch, Italienisch oder eine sonstige sogenannte lebendige Sprache -, unterstreicht sie damit den übernatürlichen und eben nicht menschlichen Charakter des Messgeschehens, der weit über den Alltag des Menschen hinausgeht!
Damit parallel geht auch das leise Sprechen vieler Teile der hl. Messe durch den Priester einher, besonders weiter Teile des Kanons als des Herzstücks der hl. Messe. Nun, auf diese Weise wird ebenfalls deutlich unterstrichen, dass das Geschehen auf dem Altar ein göttliches Mysterium ist und ein übernatürliches Heilsgeheimnis darstellt und somit umso bewusster vor Profanierung jeglicher Art - auch vor der einer eventuellen lauten Geschwätzigkeit - geschützt werden muss!
Die Stille erscheint in der Heiligen Schrift einige Male als die sogenannte Stimme Gottes. Am eindruckvollsten wird dies an einem Beispiel aus dem Leben des Propheten Elias berichtet. Er sollte sich da “auf dem Berg vor den Herrn” hinstellen. “Da zog der Herr an ihm vorüber. Ein gewaltiger, heftiger Sturmwind, der die Berge zerriss und die Felsen spaltete, fuhr vor dem Herrn her. Aber der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben, aber der Herr war nicht in dem Erdbeben. Nach dem Erdbeben kam ein Feuer. Aber der Herr war nicht in dem Feuer. Nach dem Feuer kam ein leises, sanftes Säuseln. Als Elias dies hörte, verhüllte er sein Antlitz mit dem Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle.” (3 Könige 19,9-13). Und der Herr war eben in diesem “leisen, sanften Säuseln” und sprach dann zu Elias!
Moses hat sich auf Geheiß Gottes einer 40-tägigen Einkehr mit Gebet und Fasten auf dem Berg Sinai unterworfen, um sich entsprechend auf den Erhalt der Zehn Gebote vorzubereiten. Auch Elias wanderte nach der wundersamen Stärkung durch “einen gerösteten Brotfladen und einen Krug Wasser” “durch diese Speise gestärkt, vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberg Horeb” (3 Könige 19,5-8), wo er dann die eben geschilderte Gotteserscheinung erlebte. Also aß er währenddessen wohl nichts mehr und war auch dem Schweigen unterworfen. So hat sich ja auch Jesus in der Wüste entsprechend auf Sein öffentliches Auftreten vorbereitet: “Er fastete vierzig Tage und vierzig Nächte” (Mt 4,2). Ebenso zog sich Jesus im Gebet und Schweigen allein auf einen Berg zurück (vgl. Mt 14,23), was so sicherlich nicht nur ein einziges Mal geschah.
Selbstverständlich beinhaltet die Messliturgie auch den (vorderen) Teil, in dem Glaubensverkündigung stattfindet und Gott von der ganzen Gemeinde laut gepriesen und zu Ihm gemeinsam gebetet wird. Da betet oder singt der Priester bestimmte Messteile auch laut bzw. hält auch die Predigt an Sonn- und Feiertagen in der jeweiligen Landessprache mit einer klar vernehmbaren Stimme. Dies entspricht so ältester kirchlicher Tradition!
Wenn er dann aber zum Vollzug des hl. Opfers des Neuen und Ewigen Bundes übergeht, unterwirft sich die Kirche bewusst der Sprache der Stille bzw. des leisen Sprechens - des “leisen, sanften Säuseln” - und betet auf diese Weise sowohl zu Gott als auch im Sinne der eigenen Andacht sozusagen viel lauter (!) als wenn sie dies mittels vieler laut gesprochener Worte täte. Denn sie verlangt da weder von sich noch von den Menschen den rein menschlich-irdischen „Blick“ hinter den „Vorhang“ zum Allerheiligsten (der eigentlich ja auch nicht viel an Substanziellem vermittelt), sondern öffnet im betreffenden “Schleier” des göttlichen Mysteriums viel tiefere Erkenntnisse für das innere Auge und Ohr eines gottesfürchtigen Katholiken!
Da der Priester ja in der überlieferten Apostolischen Liturgie nicht zum Volk gerichtet steht, sondern vor dem Altar, verdeckt er durch seinen Körper weitestgehend die Mitte des Altares, so dass man von hinten auch nicht genau das konkrete Geschehen dort verfolgen kann. Dies umso mehr in alten Kirchengebäuden oder größeren Kapellen - halt wegen der teilweise nicht unbedeutenden Entfernung vom Hauptschiff der Kirche zum Presbyterium, dem Altarraum.
Dennoch ist ein gläubiger Katholik nicht besorgt, dass er dann nicht jede Bewegung oder einzelne Handlung des zelebrierenden Priesters ganz genau mitverfolgen kann. Das ist auch nicht notwendig. Denn die hl. Messe als die Opferhandlung in Zeit und Raum ist sowieso “nur” das Abbild der ewig stattfindenden Himmlischen Liturgie, bei der Jesus “den Dienst im Heiligtum, im wahren Zelt verrichtet, das der Herr erbaut hat und nicht ein Mensch” (Hebr 8,2): “Christus ging ja nicht in ein Heiligtum, das von Menschenhand gemacht und nur ein Abbild des wahren ist, sondern in den Himmel selbst ein, um nunmehr vor dem Angesicht Gottes für uns einzutreten” (Hebr 9,24).
Indem also ein katholischer Priester in Treue zur Einsetzung der hl. Messe durch Jesus diese gemäß kirchlicher Vorschriften feiert, treten auch wir in Zeit und Raum ganz aktuell “mit Zuversicht zu (jenem himmlischen - Anm.) Thron der Gnade” hinzu, “damit wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden” (Hebr 4,16). Daher erlebt und feiert ein Gläubiger, der gelernt hat, durch den betreffenden mystischen “Schleier” der Ewigkeit zu schauen, die hl. Messe viel intensiver als jemand, der zwar vielleicht jede Bewegung des Zelebranten genau sehen und jedes seiner Worte ganz genau hören sollte, dem aber vielleicht gerade dadurch der entscheidende Mysteriencharakter der Liturgie verborgen bleibt!
Denn das entscheidende für eine eigentliche und geistig fruchtbringende Teilnahme eines Gläubigen am hl. Messopfer ist, dass er sich im Kirchenraum aufhalte …und hauptsächlich sein Herz entsprechend sehe, höre und spreche! Dann nimmt er im Glauben auch die Himmlische Liturgie wahr bzw. an ihr teil, bei der (optisch natürlich unsichtbar) auch der ganze himmlische Hof anwesend ist, Christus dient (vgl. Mt 4,11) und ohne Unterlass den Lobgesang Seiner Herrlichkeit darbringt (vgl. Is 6,1-4)!
In einem ihrer Bücher beschreibt Tatjana Goritscheva, die in der atheistischen UdSSR mit 26 Jahren zum Glauben konvertierte und dann der russisch-orthodoxen Kirche angehörte, ihren ersten Besuch der überlieferten Römischen Liturgie. Wegen vieler Vorträge im Westen kannte sie die “neue Messe” wohl bereits. Als sie aber einmal in Frankreich die Kirche eines traditionalistischen Benediktinerklosters betrat und zwar verspätet aber dennoch noch das überlieferte hl. Messopfer mitbekam, wurde ihr sofort klar, dass das eine wahre Apostolische Liturgie ist, weil sich ihr da das Mysterium des Übernatürlichen erschloss!
■ Also stellt die hl. Messe kein Feld für irgendwelche menschlich-modernistischen Experimente dar, wie man halt in ihr dies oder jenes ändern oder “modernisieren” bzw. an den Zeitgeist anpassen könnte, damit die Menschen sie angeblich besser verstehen könnten. Auf diese Weise beraubt man sie nur ihres übernatürlichen Charakters und degradiert sie gegen den Stiftungswillen Jesu zu einem praktisch reinen Menschenwerk.
Nein, sie ist in erster Linie dazu da, um als heiliges und von Menschen in ihrem Wesen unantastbares Messopfer Gott die Ehre zu geben und als Bundesopfer die Heilsquellen Christi für die gläubigen Menschen zu erschließen! Und je mehr sie von den “Vorhängen” und “Schleiern” des Göttlichen und Mysterienhaften behält, desto aussagekräftiger ist sie, desto besser kann sie dann ein Gott aufrichtig suchender Mensch auch verstehen und mitfeiern! Und nur so behält sie ihren ihr von Gott gegebenen Charakter und erfüllt ihren eigentlichen Zweck!
Wir sehen ja heute, wozu die modernistischen “Reformen” nach dem so genannten 2. Vatikanischen Konzil geführt haben. Was den Messritus angeht, so hat man ihn da so sehr und intensiv an angeblich überflüssigen Inhalten “entrümpelt”, dass die Messe da nicht mehr wiederzuerkennen ist. Eine bekannte Frau, die vom Atheismus zum katholischen Glauben gekommen war und gleich den Weg zur authentischen Tradition der Kirche gefunden hatte, erlebte einmal in meiner Gegenwart das erste Mal (als sich zufällig dort Aufhaltende) die “neue Messe”. Sie hat dann beim Verlassen des betreffenden Kirchengebäudes schockiert gemeint, das sei “doch keine hl. Messe”!
In der “neuen Messe” der “Konzilskirche”, wo doch der Zelebrant zum Volk gewandt und der “Altar” möglichst nahe zum Volk, wenn nicht sogar mitten im Volk, positioniert ist, wo die tagtäglich gesprochene Volkssprache verwendet wird und jeder “Vorhang” des Mystisch-Göttlichen bewusst beseitigt worden ist, sieht und hört jeder praktisch alles. Zumal man da z.B. nicht nur jede Hand- und Körperbewegung des Zelebranten vernimmt, sondern ständig auch sein Gesicht (ein konkreter privater Mensch!) und seine Mimik sehen kann. Ebenso bleiben einem auch die jeweiligen Kau- und Schluck-Gewohnheiten nicht verborgen, sondern werden wie auf einem Teller der gesamten Gemeinde präsentiert.
Aber kann man dadurch wirklich die Messe an sich besser verstehen und intensiver mitfeiern? Daran sind eigentlich sehr große Zweifel anzubringen. Steht diese gesamte und wohl bewusst bezweckte Hervorhebung und Betonung des Menschlichen denn überhaupt im Einklang mit dem authentischen Verständnis der hl. Messe als eines übernatürlichen Geschehens bzw. des mysterienhaft-sakramentalen Nachvollzugs der Himmlischen Liturgie und des Göttlichen Opfers? Wohl kaum. Das sieht dann eher nach einer rein menschlichen Veranstaltung bzw. banalen Theatervorstellung aus... Da hat man dann im Sinn des richtigen Verständnisses der Messe nicht nur nichts gewonnen, sondern auch noch viel Essentielles verloren!
Ebenso wird da immer nur laut geredet vom Zelebranten. Es wird kein Raum für die heute so sehr abhanden gekommene Stille, für eine persönliche Gedankensammlung und ein frommes Betrachtungsgebet geboten. Es gibt ja an sich verschiedene Weisen, die hl. Messe (in der wahren kath. Kirche) aktiv mit zu feiern. Dem einen bringt es mehr, wenn er aus dem „Schott“ still die vom Priester leise gesprochenen Gebete nachbetet, der andere richtet sich da eher nach einer Messandacht aus einem der guten alten Gebetbücher, der dritte versinkt teilweise oder ganz in die persönliche Betrachtung (etwa des liturgischen Geschehens am Altar oder Leidensweges Jesu o.ä.) - jeder behält also die Möglichkeit, einer ihm geistig am meisten zusagenden Spiritualität zu folgen, um sein Mit-Opfern mit Jesus zu praktizieren!
In der “neuen Messe” Pauls VI. dagegen ist jeder Kirchenbesucher praktisch gezwungen, der lauten Stimme des Zelebranten zu folgen. Es haben sich schon etliche der betreffenden etwas tiefer empfindenden Kirchenbesucher darüber beklagt, sie würden da keinen Raum für ein persönliches Gebet bekommen - sie würden halt immer nur die Stimme des laut sprechenden Zelebranten hören bzw. seien immer nur dem ausgeliefert. So würden sie sich dann auch gezwungen sehen, dem Ganzen leider nur auf eine schweigend zuhörende und somit im Vergleich geistig viel passivere Weise beizuwohnen!
Und wie ist es dann noch zusätzlich störend, wenn der Zelebrant in einer für ihn fremden Sprache und dazu auch noch mit einem großen und sehr unangenehm bzw. sogar ziemlich störend klingenden Akzent spricht! Solche Klagen seitens der Teilnehmer an der „neuen Messe“ sind nämlich auch zu vernehmen.
Aber anscheinend bestand gerade darin die eigentliche Absicht der modernistischen “Reformer”, die Messe an sich eines jeglichen übernatürlichen und mysterienhaften Charakters zu berauben, damit sie auch äußerlich als das erscheine, wofür man sie im eigenen verlorenen Glauben wohl schon zu Beginn der so sehr angepriesenen „liturgischen Reformen“ hielt - als ein religiös lediglich leicht angehauchtes Mahlgeschehen der Gemeindemitglieder. Man hat die tiefe Funktion bzw. die enorme geistige Ausdrucksstärke des liturgischen “Vorhangs” nicht mehr verstanden und hat dann den eigenen Unglauben auch den Menschen in keinesfalls christlich-katholischer Absicht aufgezwungen. Zwar ist man jetzt in der „Konzilskirche“ in zu befürchtender geistiger Verblendung sogar sehr stolz darauf, den ursprünglichen “Vorhang” des Heiligen auf die Seite geschoben oder sogar gänzlich vernichtet zu haben. Aber man erblickt jetzt dafür in der eigenen „Messe“ logischerweise auch kein wirkliches Heiligtum mehr, sondern wird im eigenen “Glauben” und im eigenen “Herrenmahl” nur mit einem tragischen Nichts, mit einer gähnenden geistigen Leere konfrontiert!

P. Eugen Rissling

 

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